Der Poet des Alltags

(Quelle: Szenenbild aus Ridley Scott´s Blade Runner, 1982)

“The sky above the port was the color of television, tuned to a dead channel.”[1]                             

(„Der Himmel über dem Flughafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen  toten Kanal gestellt war.“)

Dieser Satz aus William Gibsons „Neuromancer“ gilt unter so manchen Kennern als einer der eindrucksvollsten Auftakte, die die Romanwelt kennt. Es ist technokratische Poesie, die unseren Blick auf eine dystopische Welt richtet und Visionen in uns hochkommen lässt, die zunehmend  in eigenen Erinnerungen und Erfahrungen ihren Ursprung haben können. Es scheint jedoch nicht allein die Beschreibung einer äußeren Welt zu sein, die für die hypnotische Kraft dieser Einleitung allein verantwortlich ist. In diesem Satz drückt sich ein ganzes Lebensgefühl aus; eine metaphorische Beschreibung unseres Weltzugangs und unseres Selbstzugangs, die ich diesem Klardenker als Thema zugrunde legen möchte.

Hallo Klardenker

Der tote Kanal

Lange, lärmende Straßenschluchten zwischen Giganten aus Stahl und Beton, die sich in den ausdruckslosen Himmel emporragen – Grau in Grau. Zahllose aneinandergereihte Wohnparzellen, die dieselbe Anonymität ausstrahlen, wie ihre Bewohner. Eine Gruppe Kinder an der Haltestelle, die Köpfe gesenkt und eingetaucht im bläulichen Licht ihres Smartphones, das sie in ihren Händen halten. 

Dies könnten sie womöglich sein, die ersten Assoziationen, die durch den Satz bei Einigen hervorgerufen werden. Gewiss wird, je nach Leser, ein anderes Bild entstehen und etwas anderes in den Blick genommen werden. Sicher ist aber auch; achtet man auf die Grundstimmung, die diesen Eindrücken zugrunde liegt, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass es sich hierbei um Bilder einer verelendenden Welt mit verelendenden Menschen handelt; einer Gesellschaft, die nach einem Programm lebt, das in weißem Rauschen endet.

Es ist keineswegs trivial, dass ich mich für die Einleitung mit Gibson´s Neuromancer bei einem prominenten Vertreter der Science-Fiction Literatur bediene. Es handelt sich gerade bei diesem Werk um einen der geistigen Grundsteine des Cyberpunk, eben der Spielart des Science-Fiction, die ihren Fokus auf die dystopischen Aspekte innerhalb dieses Genres legt. Insgesamt kann Science-Fiction vor allem die interessante Eigenschaft zugesprochen werden, Hoffnungen, Ängste und Vorstellungen aktueller Themen und Problematiken aus Gesellschaft und Wissenschaft in ein mögliches, zukünftiges Szenario in erhellender Weise zu übertragen. Mit anderen Worten; durch Science-Fiction lassen sich kreativ gegenwärtige Haltungen zu beispielsweise Rassismus, technischen Innovationen, Wirkung von modernen Medien oder auch Gesellschaftsmodellen deuten und verhandeln. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf, scheinen sich die bei der Aussicht auf künftige Entwicklungen aufkommenden Gefühle von Beklommenheit und Unsicherheit nur zu gut als Ausdruck dafür deuten, dass Gedankenspiele dieser Art nicht nur in der derzeitigen Popkultur eine wahre Blütezeit erfahren, sondern einen nicht unerheblichen Teil unseres Zeitgeistes ausmachen. An dieser Stelle will ich mein Augenmerk jedoch nicht auf die Beschreibung oder Erklärung unserer gegenwärtigen oder künftigen Umwelt legen, um zu ergründen, was sie so dystopisch macht. Nein, ich möchte mich dem gewissermaßen „toten Kanal in den Köpfen der Menschen“ widmen. Was ist damit gemeint? Nun, so wie ich es verstehen möchte, sehe ich in dem „toten Kanal“ die Unfähigkeit zu sich selbst zu finden oder anders ausgedrückt, nicht mehr in sich ruhen zu können und seine innere Mitte verloren zu haben. Diese Perspektive scheint mir nicht nur deswegen interessant, weil der Mensch immer auch Teil seiner Umwelt ist und sie widerspiegelt, sondern weil auch ganz entscheidend ist, auf welche Art wir sie in Augenschein nehmen und uns damit zu ihr verhalten.

(Quelle: Szenenbild aus Ridley Scott´s Blade Runner, 1982)

Es liegt die Vermutung nahe, dass sich hierbei ein ganz ähnliches Bild abzeichnen ließe. Die Menschen haben für ihre Selbstentfaltung einen Weg beschritten, der zu nichts führt, außer weißem Rauschen. Ein gestörtes Selbstverhältnis, wenn man so will. Bevor ich jedoch auf einen Vorschlag kommen möchte, wie ein Verhältnis zu sich auf genesende und gewinnbringende Weise wieder geschaffen werden kann, scheint es mir hilfreich, zu ergründen, wie der Verlust der eigenen Mitte mit den Anforderungen unserer Zeit im Zusammenhang steht.

Der Anspruch

Dass unsere Zeit ihre weitreichenden und umfassenden Themen und Problematiken mit sich bringt, ist offensichtlich, wenngleich es jedoch häufig sehr schwer ist, zu benennen oder zu fassen, was diese im Detail ausmacht. Die Entwicklungen in einigen Feldern verlaufen derzeit so rasant und in neuartige Richtungen, dass der Bezug zu Science-Fiction nicht weit hergeholt scheint. Nicht umsonst spricht man heute von der Zeit der Digitalisierung, dem Informationszeitalter und der Globalisierung oder von konvergierenden Wissensfeldern – der Neuro-, Bio- und Informationstechnologien mit den Nanowissenschaften – ja sogar von der geochronologischen Epoche des Anthropozän ist die Rede. Betrachtet man die Entwicklungen nicht nur zu einem dieser Gebiete, sondern erweitert den Blick auf ein großes, zusammenhängendes Ganzes, so wird man sich bewusst, dass auch die eigenen Gefühle zu diesen Entwicklungen sich nicht wirklich auf einen Bereich allein zurückführen lassen, sondern sich auf das Weltgeschehen als Ganzes beziehen.

Es ist fast gleich, welchem Thema man sich widmet – seien es globalisierte wirtschaftliche Gefüge, Ansätze zu einer gesunden Ernährung und Lebensführung, Fragen rund um Immigration oder auch moderne Verständnisse von Kunst. Beschäftigt man sich eingehend und aus verschiedenen Perspektiven mit dem jeweiligen Thema, so entsteht schnell das Gefühl, eigentlich vor einer Aufgabe zu stehen, die einen Anspruch an uns stellt, wie es zuvor nur große Strömungen in der Geistesgeschichte taten. Sie sind, wie schon im Falle der Renaissance oder Aufklärung, mit einem Ausstieg aus gegebenen Verhältnissen verbunden und der Kreation neuer. Ein solcher Prozess ist immer auch mit einer Veränderung der Selbstverständnisse verbunden. Wer wollen wir in sein und wohin wollen wir uns entwickeln, um den neuartigen Umständen angemessen zu begegnen und neue Verhältnisse in diesen zu bilden? Und wie ist in dieser neuen Welt zu handeln? Eine neue Ethik muss verhandelt werden.

Beziehen wir dies auf einen jeden selbst, folgert der Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk wohl ganz richtig, dass hieraus die persönlich werdende Aufforderung wächst: „Du musst dein Leben ändern.“.[2] Ein Appell, dem er ein ganzes Buch gewidmet hat und der in gewisser Weise sich an jeden einzeln richtet und gleichzeitig für sich allein stehen kann. Dies entspricht der Struktur, die große ethische Systeme haben. Sie wenden sich eigentlich an alle, können aber von niemanden wirklich aufgefangen und umgesetzt werden, da der Mensch, den sie erfordern, noch gar nicht da ist. Es ist an uns, dies als Einladung zu verstehen über uns und Fragen unserer Zeit zu reflektieren und neue Entwürfe des Lebens, des Selbstverständnisses und unserer Weltauffassung zu verhandeln. Und eine Form, über welche wir gelernt haben dieser Einladung kreativ zu folgen, ist das Erzählen von Science-Fiction Geschichten.

Zunächst einmal ist es jedoch ein Unterschied, ob wir uns diesem Thema innerhalb eines intellektuellen Rahmens nähern oder uns den subjektiven, alltäglichen Anforderungen widmen, die hier in Verbindung zu bringen sind. So ist es doch letztlich dieser Appell „Du musst dein Leben ändern.“, welcher die drängende Aufforderung persönlich werden lässt und uns ins Handeln zwingt. Scheinbar liegt es in der Natur dieser Prozesse, dass sie einen stets hoffnungslos überfordern, ganz gleich, ob sie nun explizit oder implizit verstanden werden. So sehr es auf der Hand liegen mag, dass etwas im Argen liegt, ist es doch häufig weit weniger klar, was zu tun ist und wie man sich einbringen kann, um eine wünschenswerte Veränderung zu bewirken. Der hierbei entstehende und spürbare Druck ist Vielen ein nur zu gut bekannter Begleiter durch das alltägliche Leben.

Aus aktuellem Anlass stand da allein schon die Frage im Raum: Welche politische Haltung sollte ich einnehmen bzw. welche Partei sollte ich wählen? Wie ernähre ich mich richtig? Welche Schule kommt für mein Kind infrage? Was genau sollte ich tun, um keine großen Schäden meiner Umwelt anzutun? Eine unterschwellige Resignation bricht sich Bahn, die bis in eine umfassende Ohnmacht münden kann und man sich bald schon in einem Zustand des Ausgeliefertseins wiederfindet und man wünscht sich die Verhältnisse zurück, die nicht mit einer derartigen Last belegt waren. Viel zu schnell laufen wir Gefahr in einen Alltag zu geraten – ganz im Sinne eines sehr ernüchternden und trockenen Beigeschmacks.

Sicher ist allein mit dieser Überlegung zu den Veränderungen unserer Zeit nur ein Bruchteil in den Blick genommen, der die Stimmung unseres Zeitgeistes ausmacht und es wären noch eine Vielzahl an weiteren Dynamiken zu nennen, um einen vollständigen Überblick zu bekommen. Doch diesem Anspruch kann und möchte ich mit diesem Klardenker gar nicht gerecht werden. Es geht mir vor allem darum aufzuzeigen, dass große Veränderungen in der Geschichte auch immer einen Einfluss auf unser persönliches Leben und subjektives Empfinden haben. Und dabei es ist häufig hilfreich zu wissen, welche tiefer liegenden Prozesse dafür verantwortlich sind. Denn allein durchs Wissen über sie, gewinnen wir Freiheit und können lernen, wie wir uns dazu verhalten. Die Welt alleine mit all ihren kritisch zu bewertenden Eigenschaften ist es nicht, die unsere Aufmerksamkeit verdient – es ist vor allem die Beziehung, die wir zu ihr pflegen.

Gehen wir zurück zu dem Anspruch, der an uns gestellt wird. Wie müssen wir unsere Leben ändern? Mit dieser Frage werden auch sicher sehr unterschiedliche Antworten, Vorstellungen und Ansätze verbunden. Von Vorstellungen zu einem angemessen autarkem Lebensstil bis hin einer verstärkten Naturverbundenheit wird alles vertreten sein. Welchem Vorschlag hier mehr Beachtung geschenkt werden sollte und welchem nicht, möchte ich in erster Linie nicht beantworten, sondern lediglich auf Prozesse aufmerksam machen, die diese Frage für einen persönlich relevant machen. Es hängt wohl letztlich davon ab, welches Bild wir von uns selbst machen. Dieses Bild und damit auch Selbstverständnis ist es nach dem wir unser Leben entwerfen und das bestimmt als wer wir mit der Welt in Beziehung treten wollen. Denn ganz gleich, welchen Lebensentwurf wir für uns zurechtlegen, sei es im Stillen für sich selbst oder im Rahmen einer gemeinsamen, gesellschaftlichen Entscheidung oder welches Science-Fiction-Szenario der Welt von Morgen am nächsten kommt, so bestimmt doch vor allem unser Selbstverständnis, wie wir die Welt und uns erfahren werden. Meinen Fokus möchte ich daher lieber auf ein Selbstverständnis richten, einer Form der Selbstdeutung also, die jedem Entwurf einer Lebensführung vorausgeht.

Um meinen eigenen Gedanken zu entfalten, möchte ich mich vor allem an einen sehr inspirierenden Essay orientieren, der geradezu exemplarisch die Probleme und Gefühle unserer Zeit wunderbar einfängt und behandelt. Die Rede ist von „This Is Water: Some Thoughts, Delivered on a Significant Occasion, about Living a Compassionate Life“ von David Foster Wallace.[3] Der Essay beruht im Kern auf der gleichnamigen, berühmt gewordenen Rede, die ich nur wärmstens empfehlen kann. An dieser Stelle möchte ich einen Clip, der die entscheidenden Ausschnitte in deutscher Übersetzung zusammenbringt und passend verbildlicht anhängen, damit man sich von seinen eigenen sehr eingängigen Schilderungen ein Bild machen kann.

 

Erinnerungen an Wasser

„This is Water.“                             
 
Das sind die entscheidenden Worte mit denen David Foster Wallace seine Rede für die Absolventen des Kenyon College 2005 schließt. Es ist eine der wenigen Reden eines solchen Anlasses, die nicht mit den gewohnten Beglückwünschungen aufwartet, die nicht von optimistischen Aussichten zu erzählen weiß oder einer letzten Moralpredigt ähnelt. Stattdessen berichtet er den versammelten von der Welt der Erwachsenen, in welche die frisch gebackenen Absolventen nun hineintreten werden. Es ist eine Welt, die von einer Tristes des Alltags bestimmt ist, eine, die von Sorgen und Nöten umfasst und gnadenlos ernüchternd wirkt. Wallace erzählt von der immer gleichen, banalen Routine, der zunehmenden Desillusionierung mit dem Leben und von den nervigen, ja hässlichen Mitmenschen und natürlich dem stetigen Kampf um Geld und Macht. Es geht ihm darum, dass ganze reale Ausmaß allen Anwesenden vor Augen zu führen, wenn es heißt; der essenziellen Einsamkeit des Erwachsenenlebens gegenüberzustehen; sich der Bedeutung bewusst zu werden, sich gut anzupassen zu müssen und an der schmerzhaft schweren Aufgabe zu wachsen empathisch seiner Umwelt zu begegnen.                                    
Nun war es selbstverständlich nicht seine Intention seine Schützlinge schlicht mit einem äußerst mulmigen Gefühl in diese Welt von solcher Zukunftslosigkeit zu entlassen. Er kommt nämlich zu dem Schluss, dass es insbesondere die Auswüchse eines Egozentrismus in einem jeden von uns sind, die unsere Leben so ergrauen lassen. Eine innere Haltung also, die uns daran hindert Offenheit, Achtsamkeit und Empathie gegenüber anderen Menschen und uns selbst zu leben und aus festgefahrenen Denkmustern auszubrechen. Es ist eine Veränderung eben dieser Haltung, die einzugehen wir angehalten sind und die es zu bewahren gilt. Sie zu erwerben, ist letztlich Hauptzweck höherer Bildung und das Ergebnis guter Erziehung.

Bemerkenswert scheint mir zu sein, dass er bei seinen Ausführungen zu keiner Zeit moralisierend wird, stattdessen versucht er uns den Menschen in Erinnerung zu rufen, der den Zugang zu sich selbst kennt und bewusst und frei über sich entscheidet. Doch scheint es, dass Viele ein solches Bild von sich verloren haben und in eine tiefe Passivität gefallen sind.

Nun gibt es sicher zahlreiche Vorstellungen, Ratgeber und Wege, wie man zu sich selbst finden mag, doch nicht zuletzt durch die Einleitung von Gibsons´s Neuromancer inspiriert, möchte ich vor allem kurz auf eine Form aufmerksam machen. Der Poesie und dem Selbstverständnis als Dichter.                                               

Es heißt: Dichter schildern den Menschen, wie er ist. Sie versuchen ihn von innen her zu begreifen und zu gestalten und stehen damit in direktem Kontrast zu dem Wirken von autoritären Strukturen, medialen Einwirkungen und einer Vielzahl von alltäglichen, trivialen Mustern, die den Menschen verformen, statt ihn zu sich selber kommen zu lassen. Eugen Drewermann skizziert diese Vorstellung des Dichters in einem Vortrag sogar so weit, dass er in ihr therapeutische Qualitäten verortet. Auch dieser von ihm gewohnt informative Vortrag sei hier angefügt.

Laut Drewermann seien den Dichtern nämlich Eigenschaften zuzuschreiben wie individuell, universell und eben nicht moralisierend zu sein. Erst wenn diese Eigenschaften wirklich verinnerlicht sind, hören wir auf, uns nach festgelegten, institutionellen Wahrheiten und Werten zu richten und können uns frei entwerfen und entfalten. Eine Welt in der wir vergessen haben frei zu assoziieren und zu träumen, sondern nur noch geregelten Abläufen folgen und nach Fakten und Zahlen leben, wirke daher äußerst belastend, entseelt und buchstäblich krank machend. Dichter sind jedoch Menschen, die unverfälscht leben, die ihre eigenen Worte finden und es dadurch schaffen, sich authentisch und unbefangen auszudrücken und somit ein ungetrübtes, wahrhaftiges Verhältnis zu sich aufzubauen und in zweiter Instanz damit auch zu ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen. Sich gesund zu machen hieße demnach, der Dichter seiner eigenen Lebensgeschichte zu werden. Denn mag die Umwelt faktisch grau und monoton sein, so ist es doch an einem jeden selbst, diese so auf sich ungefiltert einwirken zu lassen oder sie doch durch die befreiende, Abstand schaffende Linse eines Poeten in Augenschein zu nehmen.                                                         
Wenn Wallace von Menschen spricht, die wirklich frei und willentlich über die Art zu entscheiden wissen, wie man andere Menschen wahrnimmt und dadurch lernt angemessen im Alltag zu agieren, dann legt er einem ein ganz ähnliches Selbstverständnis nahe. Eines, aus welchem heraus wir uns befähigen, sich so auszudrücken und zu handeln, wie man es für richtig empfindet; kurz – aus dem heraus wir lernen authentisch zu leben.

Von rationaler Seite ist schnell begriffen, was zu tun ist, doch man sollte sich nicht von der Größe dieser Aufgabe täuschen lassen. Schon Wallace meinte, dass es eine unendlich schwere Aufgabe sei, sich diese Fähigkeit zu erhalten, sie zu pflegen und immer wieder neu daraus zu schöpfen. Und auch wenn seit Wallace Ansprache mehr als 10 Jahre ins Land gezogen sind, hat sich an der Aktualität seiner Diagnose, wie wir einander und uns selbst im Alltag wahrnehmen wahrlich kaum etwas zum Positiven geändert. Daran mögen die Entwicklungen der Neuzeit, der beispielsweise technisch vermittelten Kommunikation oder die stete Beschleunigung einer Vielzahl an Prozessen auch sicher ihr übriges beigetragen haben. Doch vielleicht dies auch nur in einer solchen Prägnanz, weil wir versäumt haben, ein angemessenes Bild von uns selbst dem entgegenzustellen.

Vielleicht sind wir nach Wallace und Drewermann aus gutem Grund dazu angehalten, den Poeten des Alltags in uns wiederzufinden und sprechen zu lassen. Und wenn wir ihn hören, dann fügt er sich womöglich in noch größere Erzählungen ein, in die großen Geschichten unserer Zeit, die von Digitalisierung, einer globalisierten Welt und vielem anderen handeln. Wir würden uns nicht mehr als ein von Ihr entfremdetes, ausgestoßenes Subjekt wahrnehmen, sondern könnten uns in ihr sehen und wahrnehmen und damit auch mutig in ihr handeln und sie verändern. Der Wunsch sich als Protagonisten einer Science-Fiction-Welt zu erfahren muss nicht gleichzeitig so etwas bedeuten wie, der Realität entfliehen zu wollen oder eine Welt herbei zusehen, die den Menschen entfremdet. Science-Fiction-Klassiker wie beispielsweise Blade Runner, so auch die aktuell in den Kinos anlaufende Fortsetzung, bieten uns auch immer die Gelegenheit nachzuspüren, als was für Menschen wir uns in dem jeweiligen Szenario erleben möchten.

Was auch immer die Zukunft für umwälzende Veränderungen für uns bereithält oder welche Wege sich für uns persönlich auch immer auftun werden, wir sollten nie vergessen: Es beginnt schon mit einer einfachen Aufmerksamkeit; einem sich zuhören und einem Bewusstwerden der Dinge, die so real und wichtig sind und doch die ganze Zeit so versteckt zu seien scheinen, dass wir uns ihre Unmittelbarkeit und Fülle immer wieder ins Gedächtnis rufen müssen. Wieder und wieder. Eben so wie sich der Fisch bezüglich seiner Umwelt erinnern würde:

This is water.
This is water.

Alles Gute,

Sebastian Clauss

 

[1]Gibson, William (1984): Neuromancer, S.3

[2]Sloterdijk, Peter (2009): Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik.

[3]