Guck und Horch 2.0
Hallo Klardenker,
vor einer Woche durfte ich einen Blick in meine Stasi-Akte werfen. Den Antrag auf Einsichtnahme hatte ich gut 1 ½ Jahre zuvor gestellt. Seit der Wende ist sehr viel Wasser die Spree herunter geflossen. Ich bin ohne Groll oder überzogene Erwartungen an die Sache herangegangen. Als Tochter von Opernsängern, die mit weltoffenem Gedankengut groß geworden ist, wusste ich genau, was ich bei wem erzählen durfte und was man lieber verschweigt.
Zitat aus der Akte:
“….Die Erziehung im Elternhaus stellt sich als Schranke dar.“
– herrlich.
In meiner beruflichen Entwicklung blieben manche Türen verschlossen, die man als Künstler- und Intelligenzler-Kind nur durchschreiten konnten, wenn man den „richtigen“ Weg eingeschlagen hätte. Rückblickend kann ich heute zum Glück sagen – es war der richtige Weg und es war mein Weg. Als geübter DDR-Bürger waren Überwachungsstrukturen stets present. Wir kannten (mehr oder weniger) die Nachbarn und die Kollegen, die auf einen angesetzt waren. Zumindest dachte man das. Als ich nun meine Akte las, stellte sich tatsächlich das altbekannte DDR-Bauchgefühl ein – bei manchen DDR-Begriffen auch eine Beklommenheit. Große Erschütterungen oder Überraschungen gab es nicht – wohl aber doch die Einsicht, dass das Netz noch viel enger und akribischer gespannt war als gedacht. Die Akte begann mit einer Beurteilung aus meiner Schulzeit – 9.Klasse, zog sich über die Berichte während der Abiturzeit und der Berufsausbildung, verfolgte mein gesamtes Studium und natürlich meine Berufszeit. Selbst die Belege meiner selbst gewählten Sprachausbildung an der Volkshochschule finden sich wieder. Ich ahnte, wer in der Schulklasse „unangenehm“ war, wusste, wer beim Studium Bericht erstattete und ahnte, welcher Kollege sich berufen fühlte „die Sache“ zu unterstützen.
Und dennoch….
Die Berichte sind in teilweise sehr naivem Deutsch verfasst, was wohl jeder weiß, der schon die eigene Akte gelesen hat. Die Seiten der Akte, die ich nun zur Einsicht bekam (ich bin sicher, dass es nur ein Teil der eigentlichen Akte ist), vertieften die Erkenntnis um die Engmaschigkeit des Netzes der Bewachungen bzw. des „Erfassungsverhältnisses“ .
Geschwärzt ist relativ wenig und die verschiedenen Decknamen erinnern einfach an schlechte Agentenfilme. Ich habe auch nur um die Bekanntgabe von drei dieser Decknamen gebeten. Belege von den allmonatlichen Treffen zum Rapport der IM`s, Zettel mit konkreten Suchaufträgen vom MfS oder MdI, Kopien von Briefen, Postkarten und Einschätzungen bezeugen eine umfassende Organisation. In diversen Ausstellungen in den ehemaligen Stasizentralen kann man da Einblicke gewinnen, die sicher besonders für die interessant sind, die in anderen Regionen unseres Landes groß geworden sind. Zu einem echten „Lebensgefühl von damals“ wird es nicht verhelfen, denn das muss man einfach wirklich erlebt haben.
Auf jeden Fall wurden die Akten noch in „echter Handarbeit“ erstellt. Dank heutiger Technik und Künstlicher Intelligenz eröffnen sich da ganz neue Wege. Waren die Möglichkeiten der technischen Entwicklungen für den Normalbürger zunächst nicht vorstellbar, so wissen wir heute viel darüber – und nutzen alles, denn ist ja so bequem. Von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, einst FDP-Justizministerin, 1995 zurückgetreten aus Protest gegen den „Großen Lauschangriff“ (damals ging es um den Einsatz der „Wanze“ als Richtmikrofon) erschien im März diesen Jahres das Buch:
Angst essen Freiheit auf: Warum wir unsere Grundrechte schützen müssen
von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Das Grundgesetz und die dort verankerten Grundrechte bilden das feste Fundament unserer Demokratie. Aber sind wir uns ihrer Bedeutung noch bewusst? Oder sind wir dabei, sie auf dem Altar der Sicherheit zu opfern?
Ob es um das Asylrecht, den Schutz personenbezogener Daten oder um freie Meinungsäußerung geht: Wo Sicherheitsgefährdungen behauptet werden, heiligt der Zweck scheinbar jedes Mittel. Wo es um digitale Geschäfte geht, droht die informationelle Selbstbestimmung zu verkommen.
Die Verteidigung der Grundrechte hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu ihrer Sache gemacht. Wie keine zweite steht sie für das Thema. Ihre erste Amtszeit als Justizministerin endete mit einem Knall. Rücktritt aus Protest gegen den »Großen Lauschangriff«, der ein wesentliches Grundrecht ausgehebelt hätte: Die Wohnung ist unverletzlich.
In diesem Buch zeigt sie, warum wir die Grundrechte brauchen. Wo sie zu Recht eingeschränkt werden müssen und wo gerade nicht. Ein leidenschaftliches Plädoyer!
das Buch ansehen
Sie beklagt nicht nur die permanente Strahlung, der wir alle ausgeliefert sind, dass man in Funkzellen erfasst ist und rundum unter Kontrolle ist. Der Staat gilt bei ihr als Feind der Grundrechte, der die Verfassung verletzt, da schon lange die Würde des Einzelnen verletzt sei und in die Privatsphäre der Menschen maßlos eingegriffen wird. Der Mantel der Terrorismusgefahr ermöglichte die entscheidende Ausbreitung dieser Praxis. Staat und Konzerne sieht sie als Komplizen, wenn es um die Nutzung der gesammelten Daten geht, die im eigenen Interesse über die Landesgrenzen hinaus verkauft und genutzt werden.
Wir alle wissen, dass unsere personenbezogenen Daten für die jeweiligen Geschäftsmodelle genutzt werden. Weltumspannende IT-Konzerne erfassen unsere Daten, verkaufen sie und nutzen sie zu Werbezwecken – das ist noch die harmloseste Variante. Dem Normalmenschen entzieht sich immer noch die Vorstellung, zu welchen Zwecken diese Speicherung genutzt werden kann. Telekommunikationsverbindungsdaten werden schon immer für staatliche Zwecke genutzt. Sie werden gesammelt, ausgewertet und zu Propagandazecken und Steuerung der Menschen genutzt.
„Ich habe doch nichts zu verbergen“
Der Satz: Ich habe doch nichts zu verbergen. – ist immer noch allgegenwärtig. Das spricht für die Unbedarftheit der Mehrheit der Bevölkerung. Über die letzte Volkszählung haben sich rund 80% der Bevölkerung aufgeregt. Die offensichtliche Einmischung und Erfassung der privaten Fakten wurde bewusst wahrgenommen. Heute passiert alles digital und anonym. Dass ein Tagebuch ein Tabu für jeden fremden Blick ist, ist zumindest noch irgendwie bekannt und ich setze eine natürliche Hemmschwelle vor dem Blick ins fremde Private voraus. Jeder Nutzer von Facebook, Whatsapp….usw. setzt ein Zeichen für die eigene Geringschätzung bzw. Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Persönlichkeit und Rechte. Ein mündiger Mensch ist Herr seiner Daten. Es muss erst einmal wieder ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, dass man sich selbst ständig preisgibt. Auch mit dem Anlegen von einem soooo modernen Fitnessarmband macht man sich selbst zum Sklaven. In Zukunft stellt es die Verbindung zur Krankenkasse und Versicherung dar, die mir dann ein maßgeschneidertes Angebot machen können bzw. die Preisgestaltung dann meinem Verhalten anpassen. In Italien ist dies schon gängige Praxis. Eindeutig eine moderne Sklavenfessel, die freiwillig getragen wird.
Es wird Zeit, wieder den eigenen Kopf einzusetzen, um zu überlegen, was man im Netz preisgibt. Als Herr Zuckerberg vor etwa einem Jahr angegangen wurde, dass die Facebookeinträge der User missbraucht würden, konnte wir alle seine verbalen Versprechungen hören, dass er das Geschäftsmodell überdenken würde. ….selten so gelacht. Mobbing, Shitstorm und sonstige Ehrverletzungen sind meist Folge der Preisgabe von ganz Privatem bzw. sind dann sehr persönliche Informationen in die falschen Hände geraten. Jeder Smartphonenutzer erstellt die Dokumentation über die eigene Existenz, Denkweise und seine Gefühle. Unzählige Plattformen, Datingportale, Websits und Bloggs verhelfen oder besser verleiten uns dazu, dass wir unser Gehirn und Gefühl dorthin auslagern. Da sind Konflikte vorprogrammiert – zwischen den eigenen Interessen und denen der Fremdnutzer dieser Daten. Nicht zu vergessen, die Nutzung der Daten durch staatliche Organe. Dabei wird gerne über unsere Grenzen hinaus verwiesen – etwa die Türkei, Korea, Russland oder China.
In China ist man da schon erheblich weiter. George Orwell live und noch besser. Alleine der Einsatz der Überwachungskameras, die aus Tausenden von Leuten gesuchte Abweichler mit Hilfe der Gesichtserkennung heraussuchen können, ist erschreckend. Für die Kontrolle werden auch das Internet und TV eingesetzt. Wer sich angenehm verhält, erhält Vergünstigungen, andernfalls führt der Abzug von Punkten im System zu Strafen – man darf z.B. die Schnellzüge oder die Flugzeuge nicht mehr benützen…. Doch wie sieht es denn bei uns aus? Untersucht man die Faktenlage genauer, so sind längst Parallelen zu ziehen. Über Alexa, Smart-TV usw. habe ich schon geschrieben. Der Überwachungsstaat ist auf dem Vormarsch und was ich noch schlimmer finde – das alte Denunziantentum, das mir aus DDR-Zeiten so vertraut ist und das ich eben, beim Lesen meiner Akte wieder im Bauch gespürt habe, ist wieder erwacht und wird gefördert. Dazu gehören auch die Rentner, die das Auto auf dem Discounter-Parkplatz fotografieren, um die Überschreitung der Parkzeit oder das Fehlen der Parkuhr zu melden. Einen Herrn mal darauf angesprochen (er fotografierte nicht mein Auto), sagte er: es müsse endlich wieder Ordnung in diesem Lande herrschen. Na, da wüsste ich aber andere Gebiete. Vielleicht liegt das Spitzeltum auch im Blut – zumindest beklagten das schon Ringelnatz, Tucholksy und Brecht. Jeder ist für sein Handeln verantwortlich!
Aber kommen wir nochmal zurück auf die digitalisierte Überwachung.
Besonders aktuell sind ja die Bemühungen zur Abschaffung des Bargeldes. Bankfilialen werden geschlossen – die Deutsche Bank gab gestern bekannt, dass jeder 5.Mitarbeiter arbeitslos wird. Alles soll nur noch online geschehen.
Wie sagte eben Herr Müller:“Bargeld ist geprägte Freiheit.“ Und Gold ist Gold. Was sich in dieser Entwicklung noch wie lange aufhalten lässt, das weiß keiner genau. In skandinavischen Ländern oder Estland ist man da schon ganz schön weit. Auch hierbei ist wieder einmal das eigene Verhalten gefragt. Informationsquellen gibt es genug, daher diesmal auch so viele Buchtipps, die nur belegen, wie aktuell das Thema ist und wie viele Fachleute und Beobachter den Ernst der Lage erkennen und wachrütteln wollen. Die Stasi der DDR war geprägt von Manpower – heute übernimmt das die Künstliche Intelligenz – und doch kann der Mensch selber wenigstens darauf Einfluss nehmen, in welchem Maße er seine Fotos und Gedanken ins Netz stellt bzw. sein Bestell- und Kaufverhalten ebenso überdenken wie sein zwischenmenschliches Agieren.
Übrigens wird es „Den Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ noch sehr lange geben. Die Zahl der Neuanträge auf Einsichtnahme in die eigene Akte gehen immer noch jedes Jahr in die Tausende. Der Antrag ist im Netz (wo sonst) ganz leicht herunter zu laden. Aber bedenken Sie vorher, ob Ihnen die Erkenntnisse daraus gut tun werden oder nicht.
Christiane Clauss-Ude
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